Im Islam hat Djibril 1600 Flügel. Er taucht jeden Tag 360 Mal in den Ozean ein, und wenn er wieder herauskommt, fallen eine Million Wassertropfen von seinen Flügeln, und diese werden zu Engeln.

Nicht nur in der jüdischen, christlichen und islamischen Religion gibt es Engel. Viele Flügelwesen anderer Religionen und Kulturen sind unserer Vorstellung von Engeln durchaus vergleichbar. Engel finden sich bei den alten Ägyptern, bei den Assyrern und in Mesopotamien, bei den Griechen und Etruskern, selbst im Hinduismus, Buddhismus und im Schamanentum. Thomas von Aquin meinte zwar "Engel sind reiner Intellekt", glaubte jedoch auch, daß Engel Tiere ohne Körper seien, die einen Körper annehmen könnten. Kathedralen in Frankreich, Spanien, Italien lassen noch heute fremde Wesen erkennen, Tieren näher als Menschen, ja Monstern, Dämonen gleich. In nordischen Ländern wurden sie mit Katzen- und Vogelköpfen dargestellt, die babylonische Kunst kannte sie mit Adlerkopf und Menschenleib, und der Cherubim ist in der assyrischen Kunst eine Gestalt mit Adler- Stier- oder Sphinxenleib mit einem Löwen oder Menschenkopf. Hingegen nahmen in der persischen, griechischen und römischen Kunst die Götterboten menschliches Aussehen an, wenn sie sich zur Erde bewegten, wie die Flügelfrauen am Grab des Tutenchamon oder die nackten geflügelten Männergestalten am Pergamonaltar.

Als eine der frühest bekannten Engeldarstellungen gilt manchen Forschern eine Stele mit einem Flügelwesen aus sumerischer Zeit, die in der Stadt Ur im Euphrat-Tal gefunden wurde. Spät, erst im Jahr 1215, erlaubte das 4. Laterankonzil die Darstellung der Engel in menschlicher Gestalt und legitimierte damit nur nachträglich, was Malern und Bildhauern seit langem selbstverständlich war. Diese hatten sich bereits im 4. Jahrhundert an heidnischen Genien und der geflügelten, weiblichen Siegesgöttin Nike orientiert, diese zum Modell genommen und sich ihren Engel geschaffen.

Mit menschlichem Aussehen hatten die Engel auch alles Bedrohliche verloren, wurden tägliche Begleiter und angerufen in bestimmten Situationen des Lebens. Hunderte kannte man mit Namen und es gab nichts, wofür es nicht einen zuständigen Engel gab: Hajim Engel des Herzens, Aydiel Engel der Arbeit, Rehajel Engel der Gelassenheit, Bairim Engel des Wassers, Mirachar Engel des Frühlings, Myrrhael Engel des Abendlandes, Henael Engel des Suchens und des Findens, Ohriel Engel der Langmut, Amiriel Engel der Leidenschaft, Hamsim Engel der Wunder, Sinar Engel der Klarsicht, Uriel Engel der Dichtkunst, Zurael Engel des täglichen Lebens, um nur einige zu nennen. So führte die Verehrung der Engel auch in der christlichen Religion zu einem Engelskult, vor dem die Kirche vergeblich warnte. Die Lateransynode von 745 ächtete alle jene Engel, die in der Literatur des Judentums und im Henochbuch erwähnt wurden und gab nur noch drei biblische Engel zur Verehrung frei: Michael, Gabriel, Rafael. (...)

"Engel oder ein Geist besteht aus keiner materiellen Substanz, reflektiert daher die Strahlen der Sonne nicht und ist somit unsichtbar. Deshalb sehen wir Engel entweder, weil sie vorübergehend einen physischen Körper annehmen, oder weil das innere oder spirituelle Auge eines Menschen geöffnet wurde", schrieb der Naturforscher Emanuel Swedenborg und beeinflußte nicht nur Goethe und seinen "Faust". Schriftsteller haben sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder mit der Welt der Engel beschäftigt, sich Gedanken über die Reiche des Jenseits gemacht, wie John Milton in seinen großen Epen über das verlorene und das wiedergefundene Paradies, wie Dante Aligheri in der "Göttlichen Komödie" und schließlich Rafael Alberti in seinem Gedichtszyklus "Über die Engel". Gar keine himmlischen Eigenschaften werden da beschrieben, denn seine Engel sind illusionslos, grausam, rachsüchtig, dumm, neidisch, verlogen, raffgierig, nachtwandlerisch, häßlich und falsch.

Setzt man die Texte der Weltliteratur zu einem Puzzle zusammen, entsteht ein vielfältiges Bild, das verwirrt in seiner Widersprüchlichkeit. Wie kein anderes Wesen gibt der Engel Raum für Phantasie, Träume, Sehnsüchte, Wünsche und Projektionen. Er ist poetische Metapher, Metapher für Liebe, Geborgenheit, Gewissen, Frieden, Trost und Hoffnung. Je mehr wir über ihn erfahren, um so geheimnisvoller, rätselhafter wird er, um so unmöglicher scheint es, seinem Geheimnis näherzukommen. Doch gerade das macht ihn so faszinierend.

Isolde Ohlbaum

An der schwelle des XX. jahrhunderts schien es, die engel wären von uns für immer gegangen und alle spur nach ihnen sei verloren.

Sie wurden noch da und dort in den bestattungsinstituten beschäftigt. Zuweilen stützten sie auch die baldachine von gestern. Doch im grunde blichen sie in der untätigkeit dahin und verwandelten sich in rosafarbenen puder.

Die wirkliche renaissance der engel begann mit dem aufschwung der luftfahrt. Man könnte sagen, ohne zu übertreiben, sie seien zur erde zurückgekehrt und hätten die wangenröte des lebens wiedergewonnen. Sie helfen die hoch über den ozeanen hängende laufbrücke passieren. Aus den lautsprechern in den flughäfen sickern ihre hohen und irrealen stimmen mild, als wollten sie uns überzeugen, es gäbe noch eine rettung.

Sie sprechen in allen zungen, doch für die himmelfahrt und für die katastrophe haben sie nur ein einziges lächeln.

Zbigniew Herbert

Immerhin gibt es mindestens eine Bibelstelle, die suggeriert, daß Engel die ganze Schwere von Menschen annehmen können. Wenn Engel also, falls erforderlich, etwa 90 Kilo wiegen können, wie groß müßten ihre Flügel sein, um ein solches Gewicht vom Erdboden zu erheben oder ihnen wenigstens das Schweben zu ermöglichen?

Die größten Vögel, wie der weiße Pelikan oder der Riesenschwan, haben ein Gewicht von etwa 11 bis 14 Kilo. Sie brauchen eine Flügelspannweite von ungefähr vier Metern, um diese Last zu heben. Den Rekord für effizientes Heben hält die kanadische Gans, die pro Quadratdezimeter Flügelfläche zwei Kilo Gewicht trägt. Die meisten Vögel schaffen allerdings kaum mehr als 250 Gramm pro Quadratdezimeter Federtragfläche.

Wenn wir eine mittlere "Hubkraft" zugrundelegen, braucht ein großer Engel mit vollem irdischem Gewicht von etwa 90 Kilo eine Flügelspannweite von 12 bis 40 Metern. Das entspricht etwa der Größe eines modernen Drachenfliegers, obwohl dessen Flügel nur zum Gleiten und Schweben benutzt werden können. Es bedeutet, daß die zierlichen Renaissanceflügel nur mit Hilfe einer ziemlich großen Portion dichterischer Freiheit durch unsere Welt flattern.

Malcolm Godwin

Isolde Ohlbaum: Aus Licht und Schatten. Engelbilder, Knesebeck München 2000.