Außenseiter und Bohemiens, Tramps und Spontis werden beneidet oder geschmäht, denn sie haben Zeit und machen sich wenig aus Verpflichtungen. Als Lebenskünstler fühlen sie sich unabhängig, kommunizieren ausgiebig untereinander und sind auf demonstrative Weise mit ihrem Tun und Lassen einverstanden: Sie leben in den Tag hinein, verstehen zu träumen, geben sich spontan und spotten bürgerlichen Konventionen. Wie triftig und belanglos diese Charakteristik auch sein mag, sie vermittelt ein ebenso gängiges wie zwiespältiges Bild, nämlich das Schreck- und Wunschbild des Bürgers. Zwischen ihm und diesen Freigeistern herrscht keine Gleichgültigkeit.
Gerd Stein

Falstaff (1) Fettsack, Säufer, Vielfraß und (würden ihn diese drei Eigenschaften nicht eigentlich daran hindern) Hurenbock. Der großartigste Charakter, den Shakespeare erschuf. Feige, korrupt, betrügerisch. Ein Nationalheld der englischen Kultur (neben Shakespeare). Diese Beschreibung des rotnasigen, alkoholisierten und lüsternen Schwergewichts aus dem ersten und zweiten Teil König Heinrich IV. und der Komödie Die lustigen Weiber von Windsor ist wie Falstaff selbst: karnevalesk. Sie verdreht die Normalität, sie kehrt das Unterste zuoberst, sie setzt die gültigen Regeln außer Kraft. Falstaff, Saufkumpan und Lehrmeister des Prinzen Heinrich in Heinrich IV. sowie grotesker, abgehalfterter Ritter auf Freiersfüßen in den Lustigen Weibern, gilt einhellig als eine der komplexesten und faszinierendsten Gestalten bei Shakespeare. Er ist nicht nur Gegenstand emphatischer Darstellungen der Kritik, Objekt zahlreicher Gemälde, Inspiration für Opern von Verdi und Vaughan Williams, sondern genießt auch die Verehrung der englischen Folklore in Form von Nippesfiguren und Abbildungen auf Kneipenschildern (was angesichts seiner weinfaßähnlichen Leibesfülle durchaus passend ist). Die literarischen Ursprünge der Figur stammen aus dem großen Repertoire volkstümlicher und literarischer Verkörperungen von Anarchie: Falstaff trägt Züge der Figur des Lasters (Vice), des Lord of Misrule, des Weingotts Bacchus, der Karnevalsfigur, des miles gloriosus aus der römischen Komödie, des Teufels, Robin Hoods, des Clowns und des Narren. Aber damit ist noch nicht viel gesagt über Falstaff. Das beste Verständnis der Figur bekommt man über sein offensichtlichstes Attribut: seine nicht zu übersehende Körperfülle. Falstaff ist so ungeheuer fett, daß er allein aus einem gigantischen Bauch zu bestehen scheint. Man muß schon tautologisch formulieren: Falstaff verkörpert den Körper. Sein gigantischer Wanst macht ihn zu einer Erscheinung des Karnevals: er steht für die Völlerei nach der Zeit des Fastens. Der Bauch zeigt Falstaff exzessiv, hemmungslos, lustbetont. Der groteske Leib macht sichtbar, daß Falstaff in eine Welt außerhalb der Normalität gehört. Nichts wird hier mit gewohntem Maß gemessen. Für Falstaff gelten weder Raum noch Zeit. Sein unverhältnismäßiger Körper sprengt alle gewohnten Dimensionen des Raumes, und für ihn gilt auch keine Zeit, wie die ziemlich ungehaltene Antwort Prinz Heinrichs auf Falstaffs Frage nach der Zeit deutlich macht: „Was Teufel hast du mit der Zeit am Tage zu schaffen? Die Stunden müßten denn Gläser Sekt sein und Minuten Kapaunen, und Glocken die Zungen der Kupplerinnen, und Zifferblätter die Schilder von liederlichen Häusern, und Gottes Sonne selbst eine schöne hitzige Dirne in feuerfarbnem Taft; sonst sehe ich nicht ein, warum du so vorwitzig sein solltest, nach der Zeit am Tage zu fragen“ (1.2.5-12). Falstaffs Welt ist die des Nicht-Alltäglichen, in der das Leben ein Fest und ein Spiel ist, in der man in Rollen schlüpft, gerade so wie einem der Sinn danach steht, und in dem man Geschichten erfindet und sich nicht darum schert, ob sie stimmen oder nicht. (...) Falstaff, der sich ständig neue Namen gibt, der ständig bereit ist, in Rollenspiele zu verfallen, der jeden, dem er begegnet, zu seinem Publikum macht, und für den nicht wichtig ist, ob er eine Lüge erzählt, sondern ob eine Täuschung dramaturgisch wirksam ist, ist eine Figur, deren Rolle darin besteht, den Schauspieler zu spielen. Auch in dieser Hinsicht ist Falstaffs Körperlichkeit signifikant, denn der Körper ist das Instrument des Schauspielers. An der Figur Falstaffs konzentrieren sich alle Eigenschaften der Schauspielerei: seine Leibesfülle steht für die physische Präsenz. Seine Lust zu Inszenierungen aus dem Stegreif steht für den Sinn am Theatralischen: (...)

Falstaff (2) ist der, den keine Frau in ihrer Nähe haben möchte, weder in Windsor noch sonstwo. Nie wird es einer Leserin, Theaterbesucherin oder Anglistin gelingen, so ungebrochen von Falstaff zu schwärmen wie ihrem männlichen Gegenüber. Die monströse Figur versammelt auf geradezu beeindruckende Weise abstoßende Eigenschaften: er ist fett, verfressen, besoffen, alt, laut, aufgedunsen, obszön, ungehobelt, unehrlich, rotnasig und angeberisch. Seine Vitalität und Virilität sind von jener Sorte, deren Enklave die Männerumkleidekabine ist, jene mehr oder weniger fiktive Welt, in der der Prozeß der Zivilisation nicht stattgefunden hat, in der der Geruch nach Schweiß nicht als störend empfunden werden darf und in der mit Geschichten geprahlt wird, die nie passiert sind. Falstaff steht für eine Maskulinität, die der Inbegriff dessen ist, was Frauen an Männern befremdet. Bei allem, was Falstaff (1) verkörpert, steht er auch für eine Welt des Spiels jenseits des Erwachsenwerdens. Nichts ist ernst, alles ist Spiel, für keine Handlung werden die Konsequenzen getragen. Der Schritt in die professionelle Welt des Berufs, den Prinz Heinrich vollzieht, als er König wird, kann von Falstaff nicht getan werden. Falstaffs Welt ist deshalb auch die infantile Welt der Hobbykeller, der Fußballspiele und des Abenteuerurlaubs (...). Frauen werden Falstaff nie wirklich schätzen können, denn er gehört zu einer Welt, zu der sie keinen Zutritt haben (wollen).
Christiane Zschirnt: Shakespeare-ABC, Reclam Leipzig 2000, S. 59-62.

Ein alter Herr wird geprellt. Verdientermaßen. Denn sein Lebenslauf ist Saufen, Fluchen, Nichtstun und das Herumkriegen von anderer Leute Weiber. Und trotzdem und obgleich er die Weiber nebenbei auch dazu gebraucht, an dem Geld ihrer Männer nutzzunießen, hat der Ritter Falstaff nicht nur unsere Sympathie, sondern unsere Liebe. Gott behüte, dass ihm ernstlich Leides geschähe! Wenn sich der Herr Ford, der biedere, gerechte den Hals bräche, ließe uns das gleichgültig. Um Falstaff würden wir bitter klagen. Ein Mann voll Witz, Selbstverlachung, innerster Lügelosigkeit ...
Die wahre Lust an Falstaff kommt nicht aus der Schadenfreude über sein Missgeschick, sondern aus der Freude über die Philosophie, mit der er es trägt, und über den Optimismus, mit dem er stets von neuem in die Falle läuft.
Alfred Polgar

Gleichwohl stelle ich (...) unmissverständlich fest, dass der schurkische Held von Die lustigen Weiber von Windsor ein namenloser Hochstapler ist, der sich als den großen Sir John Falstaff ausgibt. Um dem Eindruck vorzubeugen, ich würde die erschlichene Identität dieses Schwindlers in irgendeiner Weise anerkennen, bezeichne ich ihn in dieser kurzen Würdigung als Pseudo-Falstaff. (...)
Dieser Falstaff, der weder selbst witzig noch die Ursache des Witzes anderer ist, könnte mir bittere Klagen über die Vergänglichkeit großer Dinge entlocken, wenn ich nicht wüsste, dass der Mann bloß ein ganz gewöhnlicher Schwindler ist. Faszinierend an ihm ist allenfalls, dass Shakespeare ihn so demonstrativ ärmlich ausgestattet hat. Die lustigen Weiber von Windsor sind, so scheint es, das einzige Stück von Shakespeare, das er mit Verachtung im Herzen schrieb. Er verhöhnte seine eigene Arbeit, indem er einen Pseudo-Falstaff in die Welt setzte, der nur dazu taugte, in einem Waschkorb an die Themse getragen und ins Wasser geworfen zu werden. (...)
Jeder Beliebige kann jeden beliebigen fetten Mann in einen Korb stopfen, und die Leute werden darüber lachen. Dafür braucht es keinen Falstaff und keinen Shakespeare. Spätestens an dem besonders scheußlichen Punkt, da der falsche Falstaff, als unförmiges Weib verkleidet, eine Tracht Prügel einstecken muss, drängt sich dem Betrachter der Schluss auf, dass Shakespeare dieses elende Geschäft, das er da übernommen hatte, und sich selbst dazu verflucht haben muss.

Harold Bloom: Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen: Komödien und Historien, aus dem Amerikanischen von Peter Knecht, Berliner Taschenbuch Verlag Berlin 2002, S. 461-463.