Anfang der Achtziger flog ich mit meiner Frau teils geschäftlich, teils privat, nach London. Im Flugzeug schlief ich ein und träumte von einem bekannten Schriftsteller (vielleicht war ich es selbst, jedenfalls war es hundertprozentig nicht James Caan), der in die Klauen eines psychisch kranken Fans gerät, der irgendwo ganz weit draußen auf einer Farm lebt. Es handelte sich um eine Frau, die von ihren Wahnvorstellungen in die Einsamkeit getrieben wird. Sie hält ein paar Tiere in einer Scheune, darunter ihr Lieblingstier, das Schwein Misery. Sie hat es nach der Hauptfigur in den erfolgreichen Liebesromanen des Autors benannt. Beim Aufwachen konnte ich mich am klarsten an etwas erinnern, das die Frau zu dem Schriftsteller sagt, den sie mit seinem gebrochenen Bein im hinteren Schlafzimmer gefangenhält. Um diesen Satz nicht zu vergessen, schrieb ich ihn auf eine Serviette der American Airlines und steckte sie mir in die Jackentasche. Inzwischen habe ich sie verloren, aber ich weiß noch fast genau, was ich auf ihr festhielt:

Sie redet ernst, aber weicht seinen Blicken aus. Eine große Frau, sehr kräftig und stabil; ihr solider Körper verdrängt die Luft (Was sollte das denn heißen? Vergessen Sie nicht, ich war gerade aufgewacht). "Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen, Sir, als ich mein Schwein Misery nannte. Denken Sie das bitte nicht. Nein, ich habe ihm den Namen im Gefühl meiner Verehrung gegeben, der reinsten Form der Liebe. Sie sollten sich geschmeichelt fühlen."

Tabby und ich wohnten im Brown's Hotel in London, und in der ersten Nacht konnte ich einfach nicht einschlafen. Das lag teilweise an den Geräuschen aus dem Zimmer genau über uns, die nach drei kleinen Mädchen beim Kunstturnen klangen, teilweise mit Sicherheit an der Zeitumstellung, aber auf jeden Fall auch an der Serviette aus dem Flugzeug. Darauf gekritzelt stand der Keim einer Geschichte, die wirklich hervorragend werden konnte: angsteinflößend, aber auch lustig und ironisch. Sie war zu gut, um nicht geschrieben zu werden, dachte ich.

Ich stand auf, ging nach unten und fragte den Portier, ob es einen ruhigen Platz im Hotel gebe, an dem ich ein bißchen arbeiten könne. Er führte mich zu einem wunderschönen Schreibtisch auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock. Das sei einmal der Schreibtisch von Rudyard Kipling gewesen, verriet er mir mit vielleicht verständlichem Stolz. Diese Offenbarung schüchterte mich ein wenig ein, doch war der Ort still und der Schreibtisch sehr einladend; vor allem hatte er eine riesengroße Arbeitsfläche aus Kirschbaum. Gestärkt von einer Tasse Tee nach der anderen (den trank ich bei der Arbeit eimerweise ... wenn ich kein Bier hatte, heißt das), füllte ich sechzehn Seiten meines Stenoblocks. Ich schreibe gerne mit der Hand, das einzige Problem dabei ist nur, daß ich den in meinem Kopf entstehenden Zeilen nicht schnell genug folgen kann und durcheinanderkomme, wenn ich richtig in Fahrt bin.

Als ich aufgehört hatte, ging ich kurz in der Eingangshalle vorbei, um dem Portier noch einmal zu danken, daß ich Mr. Kiplings herrlichen Schreibtisch benutzen durfte. "Es freut mich sehr, daß er Ihnen gefallen hat", antwortete er. Er lächelte wehmütig, als hätte er den Schriftsteller noch selbst gekannt. "Kipling ist an dem Tisch gestorben. Schlaganfall. Beim Schreiben."

Ich ging zurück nach oben in mein Zimmer, um noch ein paar Stunden zu schlafen. Wie oft, dachte ich, werden uns Dinge erzählt, auf die wir wirklich verzichten können. (...)

Als ich den ersten Abschnitt aus Brown's Hotel beendet hatte, in dem Paul Sheldon aufwacht und merkt, daß er Annie Wilkes' Gefangener ist, glaubte ich zu wissen, was des weiteren passierte. Annie würde von Paul verlangen, einen letzten Roman über seine mutige Hauptfigur Misery Chastain zu schreiben, jedoch für Annie ganz allein. Nach anfänglichem Zögern erklärt sich Paul natürlich einverstanden (eine psychotische Krankenschwester, dachte ich, kann ganz schön überzeugend sein). Annie sagt ihm, sie wolle ihr geliebtes Schwein Misery diesem Vorhaben opfern. Von Miserys Rückkehr sollte es nur ein einziges Exemplar geben: ein in Schweineleder gebundenes Original-Manuskript!

Hier blenden wir aus, dachte ich, und kehren zum überraschenden Ende sechs oder acht Monate später in Annies abgelegenem Haus in Colorado zurück.

Paul ist nicht mehr da, sein Krankenzimmer ist ein Schrein zu Ehren von Misery Chastain, doch das Schwein Misery grunzt noch immer sehr lebendig und vergnügt in seinem Stall neben der Scheune. An den Wänden des "Misery-Zimmers" hängen Buchumschläge, Fotos aus Misery-Filmen, Bilder von Paul Sheldon, vielleicht eine Zeitungsmeldung mit der Überschrift BERÜHMTER AUTOR NOCH IMMER VERMISST. In der Mitte des Zimmers liegt auf einem kleinen Tisch (zu Ehren von Mr. Kipling natürlich aus Kirschholz) ein liebevoll ausgeleuchtetes Buch. Es ist die Annie-Wilkes-Ausgabe von Miserys Rückkehr. Sie ist wunderschön gebunden, aus gutem Grund: Es ist die Haut von Paul Sheldon. Und Paul selbst? Seine Knochen sind vielleicht hinter der Scheune vergraben, aber ich hielt es für wahrscheinlich, daß die Sau die leckeren Teile gefressen hatte.

Keine schlechte Idee, daraus würde sich eine recht hübsche Geschichte stricken lassen (jedoch kein guter Roman, denn niemand hat Lust, dreihundert Seiten lang nach einem Typen zu suchen, nur um zu erfahren, daß er zwischen Kapitel 16 und 17 vom Schwein gefressen wurde), aber tatsächlich entwickelte sich alles ganz anders. Paul Sheldon erwies sich als weitaus einfallsreicher, als ich anfangs gedacht hatte, und seine Anstrengungen, Scheherezade zu spielen und dadurch sein Leben zu verlängern, gaben mir Gelegenheit, von der erlösenden Kraft des Schreibens zu erzählen, die ich zwar immer schon gespürt, aber noch nie hatte in Worte fassen können. Auch Annie wurde vielschichtiger, als ich sie mir zuerst vorgestellt hatte. Es machte Riesenspaß, sie darzustellen: diese Frau, der nichts Schlimmeres über die Lippen kommt als "die furchtbaren Bälger", die jedoch keinerlei Hemmungen hat, ihrem Lieblingsautor den Fuß abzuhacken, als er vor ihr zu flüchten versucht. Am Ende hatte ich das Gefühl, Annie ebensosehr zu bemitleiden wie zu fürchten. (...) Und jetzt, beim Schreiben, muß ich lächeln. Obwohl ich damals alkoholkrank und drogensüchtig war, hatte ich doch soviel Spaß mit diesem Roman.

Stephen King: Das Leben und das Schreiben, aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer, Heyne München 2002, S. 182ff. (Die Originalausgabe: On Writing erschien 2000 bei Scribner, New York.)