Falsche Freunde schon mit 13 ... oder:
Wie rechtsextreme Organisationen Jugendliche rekrutieren
Jörg Fischer

(...) Dies war also mein erster "offizieller" Kontakt zur rechten Szene. Warum ist es nicht mein einziger geblieben, warum bin ich auch zum nächsten Stamrntisch gegangen? Es gab dafür mehrere Gründe, die zunächst nichts oder nur wenig mit den politischen Vorstellungen der NPD zu tun hatten. Plötzlich zeigten Leute größeres Interesse an mir und ließen erkennen, dass ich zu ihnen passen würde. Sie kamen für mich aus einer neuen, faszinierenden Welt, und mir als 13-Jährigem war es sehr wichtig, zu einer Gemeinschaft von Älteren Zugang gefunden zu haben und von ihnen aufgenommen zu werden. Schon bei meinem zweiten Besuch wurde ich begrüßt, als ob ich dazugehören würde.
Gerade bei Neuzugängen und jüngeren Menschen wird sehr großer Wert darauf gelegt, ihnen möglichst bald ein Gefühl von Dazugehörigkeit und Geborgenheit zu vermitteln. Im Mittelpunkt steht das Erleben von "Kameradschaft" - logisch, dass dies sehr schnell auf das gesamte Leben übergreift. Schon bald setzt sich das soziale Umfeld, also der Freundes- und Bekanntenkreis, fast nur noch aus Szeneangehörigen zusammen. Entsprechend sieht dann auch die Freizeitgestaltung auch außerhalb der gemeinsamen politischen Aktivitäten aus.
Verstärkt wird diese Entwicklung - die durchaus Parallelen zu religiösen Sekten hat - durch das elitäre Selbst- und das damit verbundene rassistische Weltbild der rechten Szene. Der "Arier" ist die Elite der Menschheit, der "Deutsche" ist die Elite der "Arier", die "volks- und nationalbewussten Patrioten" wiederum sind die Elite der "Deutschen". (Junge) Nationaldemokraten verstehen sich selbst als Avantgarde; wer zu ihnen gehört, bildet somit die "Speerspitze der Elite der Elite der Elite", umgeben von Feinden - "Umerziehern", "Überfremdern"‚ "Volksschädlingen" usw. Die Reihe der rechten Verschwörungstheorien ist lang.
Aufgrund der schnellen Integration beginnt die Identifizierung mit der Gruppe, zumal man sich ja in erster Linie nicht als Individuum, sondern als Teil des völkischen Kollektivs sieht. Dieses Selbstverständnis lässt sich am besten in dem in NPD-Kreisen gängigen Satz zusammenfassen: "Du bist nichts - dein Volk ist alles!" In diesem Selbstbild liegt auch begründet, warum sich beispielsweise ein junger Neonazi in einer ostdeutschen Kleinstadt ganz persönlich von der angeblichen "Überfremdung" bedroht fühlt, obwohl dort und in der ganzen Region der Anteil nichtdeutscher Menschen an der Bevölkerung unter zwei Prozent liegt. Das subjektive Empfinden des Betreffenden wurzelt in dem Glauben, das "eigene Volk" sei in seinem "biologischen Bestand" gefährdet. Aus dieser Wahnvorstellung einer persönlichen und kollektiven Bedrohungssituation resultiert dann auch die pseudomoralische Legitimation eines Rechtsextremisten zu "Notwehrhandlungen", wie etwa der Drangsalierung oder gar Ermordung von Menschen, die nicht in sein Weltbild hineinpassen. Reue und Sühne für begangene Verbrechen kann von den Tätern daher nur in den seltensten Fällen ernsthaft erwartet werden - ein Umstand den sie mit ihren historischen Vorbildern aus der Waffen-SS gemein haben.
So aberwitzig und irrational dieses Gedankengebäude erscheint, aus heutiger Sicht auch für mich selbst, so logisch und in sich geschlossen stellt es sich aber für den dar, der ihm verhaftet ist. Verstärkt wird diese Situation vor allem durch zwei weitere Faktoren.
Der eine ist die mystische, fast schon religiöse Selbstverklärung der rechtsextremen Szene. Das beginnt schon bei der Inszenierung von Veranstaltungen. (...)
Vieles, was zunächst für mich neu war und für Außenstehende ungewöhnlich ist, wurde schnell zur Routine: jeden Montag der Stammtisch, wöchentliche Redaktionstreffen für diverse JN-Publikationen, "Kameradschaftsabende", Schulungen und die täglichen Treffen mit den "Kameraden". Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, echte Freunde gefunden zu haben und akzeptiert zu sein. Daneben verfehlte die Anerkennung, die ich erhielt, auch nicht ihre Wirkung. So durfte ich 1987 das "Nationaldemokratische Bildungs-Zentrum" (NBZ) in Iseo/Norditalien besuchen und den "Grundlehrgang" für Nachwuchskader absolvieren. (...)
Den zweiten, zu oft unterschätzten Faktor bildet der Umstand, dass man als Rechtsextremist eben nicht außerhalb der Gesellschaft steht. Ich war nie der "einsame Steppenwolf" ‚ der stigmatisiert und geächtet ist. Ganz im Gegenteil. Besonders jugendliche Rechtsextremisten werden in ihren ideologischen Überzeugungen durch Vorurteile und Meinungen bestärkt, die in der Gesellschaft weit verbreitet, teilweise sogar mehrheitsfähig sind. Viele fühlen sich letztendlich als "Vollstrecker des Volkswillens". Durch politische Kampagnen gegen Minderheiten - wie etwa zur doppelten Staatsangehörigkeit für Migrant(inn)en oder zur Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben - entsteht nicht nur ein gesellschaftliches Klima, in dem die Hemmschwelle für Gewaltanwendung sinkt, sondern das Rechtsextremisten auch in ihrer Meinung bestärkt.
Die fast schon psychische Abhängigkeit vieler Szeneangehöriger, der Elitewahn, das Bedrohungsszenario - alles das erschwert den Zugang zu ihnen und die Möglichkeit des Herauslösens solcher Menschen. Ohnehin ist es schwierig, jugendliche Rechtsextremist(inn)en von der Falschheit und Gefährlichkeit ihrer Ideologie zu überzeugen, solange sie sich beispielsweise hinsichtlich der angeblichen "Überfremdung" auf prominente und völlig unverdächtige Mitbürger/innen berufen können. Es ist kein Wunder, dass in der rechtsextremen Publizistik entsprechende Äußerungen hauptsächlich von Politikern der Unionsparteien ausführlich zitiert werden.
Nicht nur wurde Rechtsextremist(inn)en zumindest bis zum Sommer 2000 kaum vermittelt, wie inakzeptabel ihre Überzeugungen sind, sondern man begegnete Jugendlichen aus dieser Szene vor allem in Ostdeutschland im Rahmen der "akzeptierenden Sozialarbeit" mit einem Höchstmaß an Verständnis. Mit allen nur erdenklichen Mitteln wurden sie regelrecht gehätschelt, ganze Jugendzentren auf ihre Bedürfnisse abgestimmt und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes als Rekrutierungsfeld überlassen.
Mein Ablösungsprozess aus der rechtsextremen Szene, der ich neun Jahre lang angehörte, war nicht das Ergebnis von "Verständnis" und "Akzeptanz" der Gesellschaft, vielmehr das Resultat einer längeren, von vielen inneren Widersprüchen und Kämpfen begleiteten Entwicklung. Immer wieder kamen mir Zweifel an der Richtigkeit meiner Überzeugungen und Handlungen. Aber nein, es durfte nicht sein! Ich war doch kein "Verräter", kein "Fahnenflüchtiger". Genauso wie die Szene ihre Angehörigen mit Begriffen wie "Treue", "Ehre" ‚ "Kameradschaft" bei der Stange hält - oder besser gesagt: an die Stange fesselt -‚ so gilt auch der logische Umkehrschluss: Wer die "Gesinnungsgemeinschaft" verlässt, lässt seine "Kameraden im Stich". Aus dem einstigen "Kameraden" kann dann sehr schnell ein Feind werden, zumal man ja nicht nur zum "Verräter" an den Kampfgefährten und der "Bewegung" wird, sondern zum "Verräter am eigenen Volk". Das mindeste, was dann passiert, ist der Wegfall des gesamten sozialen Umfelds, zumal Freundschaften das Ende der "Kameradschaft" nicht überleben. Schlimmstenfalls kann es, wie bisher bereits zwei Mal geschehen, zur physischen Vernichtung kommen. Das Wissen um die Konsequenzen eines Ausstiegs ist ein weiterer Faktor, warum so wenige bereit sind, die Szene zu verlassen. Es darf auch nicht vergessen werden, dass es bis heute keine oder kaum Hilfestellungen für Ausstiegswillige gibt.
Für mich kam das "Ende der Fahnenstange" nicht plötzlich. Ich bin nicht am Sonntagabend als Nazi ins Bett gegangen, um nach einer nächtlichen Eingebung am Montagmorgen als Demokrat aufzuwachen. Zwei Umstände waren hauptverantwortlich dafür, dass der ganze psychische Druck und der Verdrängungsmechanismus bei mir nicht mehr wirkten. Bei meinem Rückzug aus der rechtsextremen Szene war ich 22 Jahre alt. Seit meinem 17. Lebensjahr, also seit damals fünf Jahren, wusste ich definitiv, dass ich homosexuell bin. Als Schwuler - der nicht am "biologischen Uberlebenskampf der arischen Rasse" teilnimmt - gehörte ich selbst zu einer den Neonazis verhassten Minderheit. Manche ertragen diese Lebenslüge. Mir fiel dies zunehmend schwerer, letztendlich schaffte ich es nicht mehr. Ich hatte viele Fragen und keine Antworten. Der zweite Umstand war, dass 1990 im wiedervereinigten Deutschland mehrere Ausländer/innen ermordet wurden. Im Herbst 1991 nahmen Überfälle auf Einwanderer, Pogrome und Brandanschläge auf Asylbewerberheime drastisch zu. Sie eskalierten vom 17. bis 21. September im sächsischen Hoyerswerda, wo es drei Tage lang zu schweren Ausschreitungen rechtsradikaler Jugendlicher gegen Ausländerwohnheime kam - oft unter dem Beifall eines Großteils der Bevölkerung. Gleichzeitig regte sich erster Protest, und zwar auch in mir. Ich begann mich zu fragen, wohin das führen sollte. Was würde am Ende stehen?
Die Tragweite meiner Entscheidung, "raus zu gehen, wurde mir rasch deutlich. In den neun Jahren war ich vom Außenseiter zum "Nachwuchs-Star" geworden, hatte viel Aufmerksamkeit bekommen, war herumgereicht und um Mitarbeit gefragt worden. Mein ganzes Leben fand innerhalb der Szene statt, und für Freunde "außerhalb" gab es weder Zeit noch Raum. Für meine ehemaligen "Kameraden" und "Freunde" bin ich heute der "Verräter". Das NPD-Blättchen "Frankenspiegel" bezeichnete mich Anfang 1998 als "erbärmlichen, skrupellosen Charakter".

Jörg Fischer: Falsche Freunde schon mit 13 ... oder: Wie rechtsextreme Organisationen Jugendliche rekrutieren; in: Christoph Butterwegge / Georg Lohmann (Hrsg.): Jugend, Rechtsextremismus und Gewalt. Analysen und Argumente, Leske + Budrich Opladen 2000, S. 103ff.