Der Psychiater Andreas Marneros über die Rolle der Ideologie bei rechtsextremer Gewalt, die Persönlichkeit von mordenden Neonazis und die Schamlosigkeit der Angeklagten

Marneros, 55, begutachtet seit 20 Jahren Gewaltverbrecher vor Gericht. Seit 1992 ist der gebürtige Zyprer Direktor der Psychiatrischen Uniklinik Halle. In der vergangenen Woche erschien sein Buch "Hitlers Urenkel", in dem er von Begegnungen mit rechtsradikalen Tätern berichtet.

SPIEGEL: Herr Marneros, beinahe täglich machen Neonazis mit brutalen Auftritten von sich reden. Als Gerichtsgutachter untersuchen Sie die Psyche von rechtsextremen Totschlägern und Mördern. Was verraten die Taten über die Psyche der Täter?
Marneros: Meistens fällt zunächst die ausgeprägte Grausamkeit ins Auge, mit der sich eine ganze Gruppe von Tätern ein Opfer vornimmt. In einem aktuellen Prozess begutachtete ich zum Beispiel drei Jugendliche. Sie hatten einen arbeitslosen Alkoholiker über zwei Tage hinweg zu Tode gequält - und die ganze Zeit spielten sie dazu laute Neonazi-Musik. Sie haben den Mann geschlagen, mit Springerstiefeln getreten, haben seine Haut verbrannt und eingeschnitten und Salz, Pfeffer, Paprika und Waschmittel in die Wunden gerieben. Sie haben ihn in eine brühheiße Badewanne gesetzt und ihn gezwungen, ein rohes Hähnchen aus dem Müll zu essen.
SPIEGEL: Kann ein gesunder Mensch überhaupt so viel sadistischen Erfindungsreichtum entwickeln?
Marneros: In der Regel wie auch in diesem Fall - sind es pathologische Persönlichkeiten. Über 70 Prozent haben eine traumatisierende Vorgeschichte. Wir haben zum Beispiel Täter mit einem IQ von 76 und solche, die von betrunkenen oder gewalttätigen Eltern unvorstellbar misshandelt worden sind. Mindestens die Hälfte hat krankheitswertige Persönlichkeitsstörungen, dissoziale Störungen, Versagensängste, Identitätsstörungen. Ich sehe in ihnen Verlierer und Verlorene.
SPIEGEL: Sind so schwer geschädigte Menschen schuldig für ihre Taten?
Marneros: Als Gutachter frage ich: Hat eine psychische Störung die Tat determiniert, oder konnte der Täter zur Tatzeit anders handeln, als er gehandelt hat? Unter den 56 rechtsextremen Tätern, die ich bisher in Halle begutachtet habe, hätte jeder Täter die Tat unterlassen oder abbrechen können. Alle waren verantwortlich für das, was sie getan haben.
SPIEGEL: Unterscheiden sich mordende Neonazis da von Sexual- oder Kindsmördern?
Marneros: Unter allen anderen Gewaltverbrechern sind nach unseren Untersuchungen etwa fünf Prozent komplett schuldunfähig. Sie leiden unter Wahnvorstellungen, Depressionen, Gehirnverletzungen oder Demenz. Auch Taten, bei denen der Täter nicht voll schuldfähig ist, weil er im Affekt gehandelt hat, kommen bei rechter Gewalt so gut wie nie vor. Im Gegenteil: Der Rechtsextremist provoziert ganz bewusst sein Opfer. Einigen rechten Tätern attestierte ich allerdings eingeschränkte Schuldfähigkeit, meist wegen Alkohol. Etwa ein Viertel ist bei der Tat stark betrunken, fast jeder Zehnte ist alkoholkrank. Solche Täter schickt das Gericht dann eventuell erst mal in den Entzug.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das Zustandekommen regelrechter Gewaltexzesse?
Marneros: Für eine Studie, die im März erscheint, haben wir in Halle 80 rechte Gewalttäter wissenschaftlich untersucht. Alle Täter zeigten extrem hohe Aggressionswerte. Gleichzeitig fehlt diesen jungen Männern das Vermögen zur Einfühlung in andere Menschen und deren Leid. Dieses erschreckende Fehlen von Empathie ist ein echtes Merkmal rechter Gewalt. Typisch ist, was bei dem sehr grausamen Mord an Alberto Adriano vor rund zwei Jahren in Dessau geschah: Um noch den tödlich Verletzten zu demütigen, zogen ihm die Täter Hose und Unterhose aus.
SPIEGEL: Findet Vergleichbares außerhalb der rechten Szene überhaupt statt?
Marneros: Da gibt es eine Verschiebung. Ich erinnere mich an einen großen Mordprozess Anfang der 90er Jahre hier in Halle. Da hatten zwei Teenager auf einem Dachboden einen Obdachlosen gekreuzigt. Sie fanden ihn lebensunwürdig. Der Mann starb. Einen rechtsextremen Hintergrund gab es nicht. Solche grausamen Delikte sehen wir seit einigen Jahren deutlich häufiger innerhalb der Szene als anderswo.
SPIEGEL: Sind Neonazis also ein Sammelbecken für pathologisch Gewaltveranlagte?
Marneros: So ist es. Junge Menschen, die solche enormen sozialpsychologischen Defizite haben, sind auf der verzweifelten Suche nach einem persönlichen Image. In der rechten Gewaltszene finden sie eine ideale Plattform. Sie zieht Menschen mit brutalen, sadistischen Persönlichkeitsmustern an. Auch deshalb glaube ich, dass rechtsradikale Gewalt keine politische Gewalt ist. Anders als zum Beispiel der RAF-Terrorismus ist sie reiner Selbstzweck. Sie trägt lediglich ein ideologisches Mäntelchen. Die Täter sind ganz gewöhnliche kriminelle Gewalttäter.
SPIEGEL: Erst Mitte Februar hetzten Skins im Zug von Halle nach Eisenach ihren Kampfhund auf einen Äthiopier. Ist Fremdenfeindlichkeit kein politisches Motiv?
Marneros: Die Parolen der Neonazis richten sich zwar gegen Juden, Ausländer, Schwarze. Aber die meisten ihrer Opfer sind in Wirklichkeit Deutsche. Der Hass auf Andersfarbige ist nur vorgeschoben.
SPIEGEL: Wenn die rechte Szene in ein paar Wochen wieder Führers Geburtstag feiert, ist das für Sie kein politisches Statement?
Marneros: Bei anderen vielleicht, aber nicht bei diesen Tätern. Was bei ihnen auffällt, ist die floskelhafte Art, in der sie sprechen. Wir fragten in der Studie unter anderem nach politischen Kenntnissen. Das Ergebnis: Die allermeisten haben keinerlei Wissen, das eine politische Ideologie untermauern könnte. Ich erinnere mich an einen Angeklagten, der vermutete, Adolf Hitler sei 1988 gestorben.
SPIEGEL: Wollen Sie sagen, die rechte Ideologie spiele keine Rolle, wenn es zu Mord und Totschlag kommt?
Marneros: Doch. Als pures Vehikel der Gewalt ist sie sogar essenziell. Nehmen Sie als Beispiel die Neonazi-Lieder, in denen Juden vergast und Schwarze durchs Klo gespült werden: Sie legitimieren Gewalt; sie verlangen geradezu danach.
SPIEGEL: Ist Ihnen als Gutachter mit ausländischem Akzent schon einmal persönlicher Hass der Täter entgegengeschlagen?
Marneros: Nein, zumindest kein ausgedrückter Hass. Ich weiß natürlich nicht, was hinter meinem Rücken geschieht. Aber
in dem Moment, wo rechte Gewalttäter, die getötet oder einen Menschen schwer verletzt haben, mit mir alleine dasitzen, wirken sie extrem ängstlich auf mich. Die zittern regelrecht, wenn ich vor ihnen sitze. Sie haben Angst vor einer hohen Strafe. Zugleich bemerke ich auch eine spezielle Feigheit. Jeder versucht, die Schuld auf den anderen abzuschieben.
SPIEGEL: Schämen sich die Täter in solchen Momenten?
Marneros: Nein, und das ist ebenfalls kennzeichnend. Ihnen fehlt in extremer Weise das Schamgefühl. Ich habe nicht einen Täter getroffen, der Reue oder Scham gezeigt hätte. Scham ist ein sehr komplexes Gefühl. Es kommt genau dann auf, wenn durch eine schreckliche Tat oder eine unterlassene gute Tat mein positives Selbstbild zerstört ist. Viele dieser Täter haben aber kein positives Selbstbild. Andererseits rührt die Schamlosigkeit auch daher, dass die Täter glauben, es gebe eine Menge Leute in dieser Stadt, die sagen: "Bravo, gut gemacht."
SPIEGEL: Zumindest verblüfft selbst die Staatsgewalt mit einer gewissen Laxheit. Die Skinheads etwa, die ihren Hund auf einen Schwarzen hetzten, wurden von den Beamten des Bundesgrenzschutzes erst einmal laufen gelassen.
Marneros: Ich halte das für eine Katastrophe. Milde wird von diesen Tätern immer als Zustimmung ausgelegt. Nach meinem Eindruck dreht sich die öffentliche Diskussion viel zu sehr um präventive Lösungen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche mir sehr, dass Schullehrer die Biograflen der Täter in meinem Buch lesen, damit sie die Gefährdung dieser jungen Leute frühzeitig erkennen. Aber es wird immer Menschen geben, bei denen die präventive Ebene nichts bringt. Bei 36 Prozent der Täter, die wir, meist nach einem Mord, begutachtet haben, gab es zuvor Verwarnungen, Verurteilungen zu sozialer Arbeit, Reha- oder berufsbildende Maßnahmen. Doch all das verhinderte nicht, dass sie einen Menschen getötet haben.
SPIEGEL: Plädieren Sie als Psychiater für mehr Härte?
Marneros: Ich bin dafür, dass wir den Tätern von Anfang an zeigen, wo die Grenzen sind. Aus meiner Sicht sollten möglichst keine Bewährungsstrafen ausgesprochen werden. Wir haben schon genügend Fälle zu beklagen, in denen Neonazis, denen mit Milde begegnet wurde, neue Gewalttaten verübten, leider auch tödliche.
SPIEGEL: In Ihrem Buch bezeichnen Sie diese Täter als "lachende Angeklagte".
Marneros: Ja, solange sie in der Gruppe sind. Im Rudel triumphieren sie. Deswegen ist es auch für die Prognose der Täter fatal, wenn sie sich im Gefängnis alle wiedertreffen. Dort bilden sie eine Elite. Kaum jemand verbietet ihnen, in der Haft ihre Statussymbole wie Springerstiefel und Lonsdale-T-Shirts weiter zur Schau zu tragen.
SPIEGEL: Diese Täter bekunden Stolz darauf, Deutsche zu sein. Sie selbst bezeichnen sich als "Wahldeutschen". Rührt Ihr Bemühen um diese jungen Leute auch daher?
Marneros: Sagen wir so: Ich habe "Hitlers Urenkel" auch aus persönlicher Wut geschrieben. Als ich in den 70er Jahren meine Entscheidung traf, aus der damaligen Diktatur Griechenland nach Deutschland zu gehen, geschah das auch, weil ich große Bewunderung für Willy Brandt empfand. Wenn jetzt, wie vor ein paar Wochen, ein pakistanischer Gastprofessor in Halle auf der Straße zusammengeschlagen wird, spricht sich das sofort herum. Freunde in den USA fragen mich: "Die Deutschen verbrennen wieder Menschen, wie kannst du nur dort leben?" Am liebsten würde ich meine Jungs dann mitten auf den Times Square in New York stellen und sagen: Schaut sie euch an. Das sind sie: enorm einsam, enorm armselig. Aber es sind nicht die Deutschen.

Beate Lakotta: "Triumph im Rudel". Der Psychiater Andreas Marneros über die Rolle der Ideologie bei rechtsextrember Gewalt, die Persönlichkeit von mordenden Neonazis und die Schamlosigkeit der Angeklagten; in: Der Spiegel, 10/2002, S. 222ff.