Lessing, der Islam und die Toleranz

Vortrag auf dem Studientag: "Toleranz - ein brauchbarer Begriff im interreligiösen Dialog?" in der Evangelischen Akademie Arnoldshain am 28. September 2004 von Silvia Horsch

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VI Nathan der Weise im 21. Jahrhundert

Was kann uns ein Stück wie der Nathan heute noch sagen? Die Botschaft des Nathan - die Zusammengehörigkeit aller Menschen über die Grenzen der Religionen hinweg und die Möglichkeit einer friedlichen Verständigung - ist schon öfter für tot erklärt worden. Vor dem Hintergrund der Erfahrung zweier Weltkriege, des Holocausts, des Bürgerkriegs auf dem Balkan, des Nahostkonflikts und zuletzt des Terrors islamistischer Extremisten und dem daraufhin erklärten "Kampf gegen den Terrorismus", der bereits zwei Länder mit Krieg überzogen hat, scheint sich die Einsicht aufzudrängen, dass Lessing mit seiner Toleranzbotschaft zuviel verlangt: Ein Regisseur der zahlreichen Nathan-Inszenierung nach den Anschlägen vom 11. September 2001 drückte dies so aus: "Eine sehr große Toleranz, eine nicht lebbare Toleranz aber auch. Das ist die Tragik!" (...)

Lessings Toleranzverständnis wurde beschrieben als eine Haltung des Respekts und der Anerkennung: keine bloße Duldung anderer Überzeugungen, sondern eine ernsthafte und konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen. Erfüllen heutige Toleranzmodelle diesen Anspruch oder fallen sie dahinter zurück?

An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich von Lessings Toleranzbegriff mit einem Modell an, das gegenwärtig auf relativ breite Zustimmung zu stoßen scheint. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst plädiert unter den verschiedenen Toleranz-Modellen für eine "Respekt-Konzeption", die "Toleranz als Tugend der Gerechtigkeit und als Forderung der Vernunft" begründet. Toleranz beruht in diesem Modell auf einer "moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen". Die Anerkennung des anderen in seiner Anders- und Eigenheit wird als moralische Verpflichtung verstanden. Mit dem Begriff des Respekts wird somit die Haltung der Anerkennung, die bereits Lessing und nach ihm Goethe gefordert hat, als Grundlage der Toleranz bestimmt.

Ist die zentrale Bedeutung des Respekts ein Anzeichen dafür, dass Lessings Toleranzbegriff heute allgemeine Anerkennung findet? Jürgen Habermas hat in einer Rede viel stärker den praktischen Nutzen des Toleranzgebotes betont:

"Funktional betrachtet, soll religiöse Toleranz die gesellschaftliche Destruktivität eines unversöhnlich fortbestehenden Dissenses auffangen. Das soziale Band, welches Gläubige mit Andersgläubigen und Ungläubigen als Mitglieder derselben säkularen Gesellschaft verbindet, soll nicht reißen." ("Wann müssen wir tolerant sein?" 2002)

Hier hat die Haltung der Toleranz das Ziel, den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Vielleicht ist das auch alles, was man realistischerweise verlangen kann. Lessing ist jedenfalls weiter gegangen: Der Aspekt der Friedenssicherung spielt zwar auch bei Lessing eine Rolle (so verhindert die Toleranzforderung im Rat des Richters auch, dass sich die Brüder gegenseitig die Köpfe einschlagen), dennoch geht sein Verständnis von Toleranz darüber hinaus. Toleranz bedeutet bei Lessing nicht nur das Zulassen, sondern das Sich-Einlassen auf andere Überzeugungen. Nach diesem Verständnis ist Toleranz die Grundlage für eine produktive Auseinandersetzung mit anderen Ideen und Konzepten: Die Einsicht in andere Perspektiven ermöglicht einen Erkenntniszuwachs und so kann die Beschäftigung mit anderen Religionen und Kulturen zu einer Bereicherung werden.

Mit der Vorstellung, dass dies auch für den Islam zutrifft, stand Lessing schon in der Aufklärung isoliert da. Heute wird der Islam sowenig als Bereicherung gesehen wie je. Die Anwesenheit von mehreren Millionen Muslimen in Europa wird eher als Problem verstanden, und der Islam stellt offensichtlich zur Zeit die größte Herausforderung für die europäische Toleranz dar. In Deutschland kommt es bei Fragen der Religionsausübung von Muslimen, wie dem Schächten, dem Moscheebau oder dem Tragen des Kopftuches regelmäßig zu Kontroversen. In diesen bündeln sich nicht selten alle Ängste, die mit der Anwesenheit einer als "fremd" bis "gefährlich" angesehenen Minderheit verbunden sind.

In Frankreich wie in Deutschland zeigt sich im Zusammenhang des aktuellen "Kopftuchstreits", dass sich die gesellschaftliche und politische Praxis in weiten Teilen nicht an einer als "Respekt" verstandenen Toleranz orientiert, die - so auch Forst - das Kopftuch im Unterricht zu tolerieren (d.h. zu respektieren) hätte. In letzter Zeit scheint sich vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Verhältnissen die nicht nur im "Kopftuchstreit" zu beobachtende Kulturkampf-Rhetorik zu verschärfen. Der vorgeblich religiös motivierte Terrorismus, die Eskalation des Nahost-Konflikts, die neuerliche Rede von "Kreuzzügen" - all dies sind Phänomene, die den von Samuel Huntington geweissagten "Kampf der Kulturen" scheinbar Realität werden lassen und die Tendenz verstärken, von Kulturen als Blöcken zu denken, die auf fest umrissene und unveränderliche Identitäten aufbauen. "Der Islam" und "der Westen" stehen sich in dieser Weltsicht als geschlossene Systeme unvereinbar gegenüber. Und auf beiden Seiten arbeiten die Vertreter dieser Weltsicht sorgfältig an der Pflege der jeweiligen Feindbilder.

Die Vorstellung von eindimensionalen und eindeutig abgrenzbaren Identitäten sollte nicht erst angesichts der Entwicklungen der Globalisierung und der Migration als imaginäres Konstrukt widerlegt sein. Kulturen unterlagen schon immer historischen Wandlungsprozessen und entwickelten sich im gegenseitigen Austausch. Anscheinend ist jedoch die "Rückbesinnung" auf das "Eigene" und die Abgrenzung vom "Anderen" in der Moderne zum Bedürfnis geworden, um sich der eigenen, unsicher gewordenen Identität neu zu versichern. Diese fundamentalistische Konstruktion von Identität ist in islamistischen Strömungen, die den Islam von "fremden" Einflüssen reinigen wollen, genauso zu beobachten wie in Teilen der westlichen Gesellschaften, wo man meint, eine "Leitkultur" vor dem Zerfall bewahren zu müssen.

Lessing hat den Aufbau eines solches Gegenbildes zur eigenen Gesellschaft zweifach unterlaufen: Durch die Charakterisierung des Islam als einer Religion der Vernunft und Toleranz einerseits und den Hinweis auf intolerante und irrationale Elemente der eigenen, christlich-abendländischen Kultur andererseits. Die Aktualität von Lessings Auseinandersetzung mit dem Islam liegt deshalb vor allem in zwei Punkten:

- in der Bereitschaft, grundlegende Werte nicht nur in der eigenen, sondern auch in anderen Kulturen und Religionen zu entdecken und sie damit als universell zu begreifen.

- in der Bereitschaft zur Kulturkritik

In dieser Haltung ist Lessing ein Vorbild - für Muslime wie Nichtmuslime. Zu den Voraussetzungen für einen gleichberechtigten Dialog gehört, sich von essentialistischen Betrachtungsweisen zu lösen. Gegenüberstellung wie rationaler Westen versus irrationaler/fanatischer Islam oder auf muslimischer Seite moralischer Islam versus unmoralischer Westen müssen aufgelöst werden durch die Einsicht in die Komplexität und die Verschiedenheit innerhalb jeder Kultur und Religion selbst.

Außerdem gilt es, über die Unterschiede von Religion und Kultur hinweg, die gemeinsamen Werte zu entdecken, und sich nicht in erster Linie als Angehörige von verschiedenen Religion, sondern als Menschen zu begegnen. Oder wie Nathan es ausdrückt: "Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch?" (II,5).

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