16. Oktober 2015

„Wenn man auf die Schnauze fällt, gibt man nicht auf!“

Es war Frühjahr, als Reinhard Simon zum ersten Mal nach Schwedt kam. Frühjahr 1982. Das erste, was Theaterintendant Helmut Frensel dem damals 31-Jährigen in Schwedt zeigte, war das Waldbad.

„Das war so nach dem Motto: Guck mal, so was haben wir hier auch ...“, erinnert er sich. Vorher hatte man ihn gewarnt, geh bloß nicht nach Schwedt, hieß es, das ist eine hässliche Stadt, Platte, Armeeknast, Chemie. „Aber ich wollte hier ja nicht spazieren gehen, ich wollte Theater machen“, sagt Reinhard Simon. Nach dem Schauspielstudium in Rostock und seinem ersten Engagement am Theater Zittau war er damals, vor 33 Jahren, auf der Suche nach einer Bühne, an der er spielen und Regie führen konnte. In Schwedt fand er sie. Und blieb, erst mal bis 1988.
Reinhard Simon, Jahrgang 1951, wuchs als ältester von vier Brüdern auf, seine Mutter war Schneiderin, sein Vater Dreher und Lehrausbilder in der Warnowwerft. Die Geräuschkulisse seiner Kindheit und Jugend, die er noch immer im Ohr hat, das sind die Bassgitarren, die aus dem nahegelegenen Teepott bis zum Elternhaus herüberschallen, das ist das Geschrei der Möwen und das ist das Tuten der Nebelhörner im benachbarten Hafen. Warnemünde. 1971 ging der frischgebackene Schiffbauer mit Abitur an die Rostocker Schauspielschule. 44 Jahre später sagt er: „Man schafft alles, was man wirklich will. Mein Jugendtraum war es, Schauspieler zu werden. Und das habe ich erreicht. Und wenn man auf die Schnauze fällt, dann darf man nicht aufgeben, dann gibt es irgendeine Lösung, sodass man doch zum Ziel kommt. Nichts machen und aufgeben ist nicht mein Ding“. Wie er das meint, zeigt er in Schwedt seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Würde er anders denken, gäbe es die Uckermärkischen Bühnen Schwedt vermutlich nicht.

Denn als Reinhard Simon im August 1990, inzwischen an die Oder zurückgekehrt, Intendant in Schwedt wurde, war weder von der Uckermark, noch von den Bühnen die Rede. Noch gab es ein kleines Theater und ein viel größeres Kulturhaus, die sich seit 1978 nicht unbedingt durch ein kreatives Miteinander ausgezeichnet hatten. Deren Fusion zum Konzept gehörte, mit dem sich der damals 39-jährige Schauspieler und Regisseur beim Runden Tisch der Stadt beworben hatte. Und der mit seinen Mitarbeitern einen Namen fand und durchsetzte, in dem dieses Konzept in Kurzfassung steckt: Uckermärkische Bühnen. „Auch wenn es die Uckermark als Landkreis noch nicht gab, sahen wir uns nicht als kleines Stadttheater, sondern als Einrichtung für die gesamte Region – und darüber hinaus. Und Bühnen? Diese Bezeichnung ist die beste Klammer für das, was wir hier machen. Das kann Theater sein, aber auch jede andere Form von Veranstaltung“, sagt Reinhard Simon heute.
25 Jahre, nachdem er am 19. Oktober 1990 im tosenden Schlussapplaus für das Musical „Linie 1“ vor den Vorhang trat, und eben jene Uckermärkischen Bühnen Schwedt verkündete. „Zum ersten Mal volles Haus. Zum ersten Mal funktionierte es zwischen dem Publikum und den Machern. Zehn Minuten stehende Ovationen. Es war wunderbar – du hast Erfolg, du merkst, dass das Publikum mitgeht. Diese Situation habe ich genutzt. Und da habe ich diesen Namen verkündet. Ganz spontan, aus der Situation heraus. Das ist das schönste Gefühl, das ich habe, wenn ich an die ubs denke. Mit dem Namen ist die Programmatik verkündet worden. Das macht mich im Rückblick stolz. Ich bin jemand, der nicht so gern zugibt, dass er stolz ist. Aber in diesem Fall kann ich das so sagen. Denn ich habe Dinge bewegt, die ich in der Konsequenz damals noch gar nicht überschauen konnte, deren Tragweite noch nicht klar war“, sagt Reinhard Simon.

Immer stand für ihn der Bezug des Hauses zur Region im Mittelpunkt. Wie es nur mit einem eigenen Ensemble geht: „Ich habe meinen Leuten seit 1990 immer wieder gesagt: Ihr müsst hier wohnen, ihr müsst ein Teil von Schwedt sein, die Leute müssen euch anfassen, mit euch reden, euch in der Kaufhalle sehen – was auch immer. Denn das, was wir auf der Bühne versenden, soll mit unserem Lebensgefühl, unserer Lebensweise zu tun haben. Das meine ich mit Identifikation, mit Heimatgefühl“. Für Reinhard Simon, dem mal bescheinigt wurde, sich von anderen Theaterintendanten auch dadurch zu unterscheiden, dass er nicht nur wie Joe Cocker aussehe, sondern auch singen könne wie dieser, gehört dazu auch ein genauer Blick auf sein Publikum. Er sagt: „Unsere vornehmste Aufgabe ist es, Menschen zu unterhalten. Unterhaltung im besten Sinne ist aber keine sinnentleerte Belustigung, die die Menschen von der Realität wegführt. Sie beinhaltet auch den gesellschaftlichen Disput über die Verhältnisse, in denen wir leben. Und es kann sehr lustvoll sein, an der Veränderung der Welt, die uns so, wie sie ist, nicht gefällt, mit wachem Verstand und fröhlichem Herzen teilzuhaben. Auch als Theater. Gerade als Theater“.

Was er damit meint, zeigt er mit der „Sonnenallee“, die er nach der Erfolgsinszenierung von 2001 noch einmal produziert hat. Weil er sie auch im Jahr 25 der größeren Bundesrepublik für aktuell hält. „Ich will diesem Lebensgefühl noch einmal eine große Bühne geben. Neben Romeo und Julia ist das ein Motiv, das sich durch mein Arbeitsleben zieht. Beides hat ja auch miteinander zu tun. Das sind junge Leute, die auf ihre Art und Weise gegen die Widerstände einer verkrusteten Gesellschaft angehen. Bei Romeo und Julia mit tragischem Ausgang. Hier ist nicht der Tod am Ende. Aber vielleicht die Desillusionierung“. Sagt es und fügt hinzu: „Nur die wenigsten schaffen es, ihre Träume zu verwirklichen. Wenn ich mir das in Erinnerung rufe: Was habe ich damals gewollt? Und was ist daraus geworden“.